Leiden mit der Maus

Welt am Sonntag 06.10.13

Der Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz stellt Quantität vor Qualität, kritisieren Experten. Darunter leiden Kinder und Eltern. Von Katja Sponholz


Leo Lausemaus" gibt es eigentlich gar nicht wirklich – nur als Figur in einem Kinderbuch (Link: http://www.welt.de/themen/kinder-und-jugendbücher/) .

Eine kleine Maus, die schwimmen lernt, Geburtstag hat, mal wieder trödelt oder sich ein Geschwisterchen wünscht. Zwei Bände aus der Reihe jedoch liest Sabine Menges ihrem zweieinhalbjährigen Sohn momentan nicht mehr gerne vor. Die Folgen "Mama geht zur Arbeit" und "Leo Lausemaus will nicht in den Kindergarten". Vielleicht, weil sie so realistisch sind. Und weil der Grundschullehrerin dann jedes Mal die Tränen in die Augen schießen. Vor allem die Passage, wo sich die Mutter von ihrem Leo im Kindergarten verabschiedet und zur Arbeit fährt und er fleht: "Nein, Mama, geh nicht. Bitte lass mich nicht allein!" Oder wo er sie fragt: "Hast du mich denn gar nicht mehr lieb?"

Auch Sabine Menges (42) hat einen Leo – genauer gesagt: einen Leonard. Und er leidet genauso wie die Maus im Kinderbuch, wenn sie ihn morgens um kurz nach 7 Uhr an der Kita absetzt. Und nicht nur das: Seitdem er im Kindergarten ist, hat er nachts Albträume, ruft im Schlaf ständig "Meine Mama, meine Mama, geh nicht weg" und nässt neuerdings wieder ein. Nicht nur der kleine Leo leidet. Auch seine Eltern. Und vor allem seine Mutter, wenn sie ihn morgens wegbringt, um zur Schule zu fahren: "Dann gehe ich da schon heulend weg", gibt sie zu. Jeden Morgen hat sie Angst vor der Szene: Wenn sie in die Einrichtung kommt mit dem Jungen auf dem Arm und er weint und weint und weint – und die Erzieherin ihn nimmt und die Mutter auffordert, jetzt einfach zu fahren. Neulich hat sie noch mal angehalten und ist zurückgekommen, um sich heimlich vor ein Fenster zu stellen und zu horchen, ob er immer noch weint. Gehört hat sie nichts. Beruhigt hat sie das jedoch auch nicht: "Vielleicht waren die Kinder ja schon längst in einem anderen Raum", überlegt sie.

Mehr als vier Wochen geht das schon so. Und Leo ist kein Einzelfall. Nicht in dieser Kita – und nicht in dieser Stadt. "Es ist das Schrecklichste, was ich überhaupt erlebe", sagt eine 41-jährige Mutter aus dem Kreis Unna, deren dreijährige Tochter neuerdings im Kindergarten ist, seit sie selbst wieder arbeitet.

Und immer wieder zermartern sich die Frauen den Kopf mit den immer selben Fragen: "War es die richtige Entscheidung, das Kind schon in den Kindergarten abzugeben? Sollte ich lieber auf den Beruf verzichten, und dafür mit ihm zu Hause bleiben? Ist es zu jung für den Kindergarten?" Aber auch: "Bin ich einfach nur eine hysterische Mutter und müsste härter sein?"

Diese Fragen stellen sich Eltern schon, seit es Kindergärten gibt. Aber seit die Kinder immer jünger werden, die Gruppen immer größer und der Personalschlüssel immer schlechter, scheint sich das Problem zuzuspitzen. Vor allem, seit dem Ausbau der U3-Kinderbetreung in NRW und dem Rechtsanspruch, der seit dem 1. August auf einen Tagesbetreuungsplatz gilt. Vor diesem Hintergrund wandte sich bereits das Forum Förderung von Kleinkindern, ein NRW-weiter Zusammenschluss von Verbänden und Vereinigungen aus der Kinder-, Jugend- und Familienhilfe, an Landespolitiker und Städtetag. In dem Offenen Brief heißt es unter anderem: "Kinder benötigen in ihrer Betreuung Verlässlichkeit, Kontinuität und Rahmenbedingungen, welche ihnen eine persönliche Bindung and die betreuende Person ermöglichen. Insbesondere jüngere Kinder leiden unter zu großen Gruppen und dem Lärmpegel und reagieren auf einen zu geringen Personalschlüssel mit Überforderung."

Für Sabines Freundin Kati Baumgart, eine Schweizerin, sind die Probleme, die Leo derzeit hat, alles andere als verwunderlich. "Kinder, die mit zwei Jahren oder noch jünger in die Kita kommen, sind doch viel zu jung! Das sind doch noch Babys, die kann man doch nicht stundenlang abgeben", sagt sie kopfschüttelnd. In ihrem Heimatland sei das jedenfalls anders – und aus ihrer Sicht besser. "Da gibt es für Kinder erst ab dem Alter ab fünf Jahren ein Kindergartenjahr, das obligatorisch ist." Und was ist mit den Frauen, die in den ersten Jahren nach der Geburt schon wieder arbeiten wollen? "Das ist die andere Seite der Medaille", gibt die 44-Jährige zu. "Bei uns gibt es diese Erziehungszeit wie in Deutschland (Link: http://www.welt.de/themen/deutschland-reisen/) gar nicht. Wenn da jemand ein Kind bekommt, ist seine Stelle automatisch weg. Das ist in Deutschland natürlich viel besser geregelt." Doch der Preis dafür sei hoch. Und deshalb bleibt sie bei ihrer Haltung: "Kinder, die schon mit zwei Jahren oder noch eher in die Kita kommen, sind viel zu jung dafür. Die brauchen doch ihre Mutter."

Ein "Bauchgefühl", das auch Experten bestätigen – wie Petra Adler-Corman, analytische Kinder- und Jugendlichentherapeutin aus Düsseldorf, die sich auch wissenschaftlich mit dem Thema Säuglings- und Kleinkindbeobachtung beschäftigt. "Auf uns kommt eine emotional verarmte Gesellschaft zu", befürchtet sie. Psychische Sicherheit entstehe vor allem in den ersten zwei bis drei Lebensjahren durch den kontinuierlichen Austausch mit den Primärbezugspersonen – meist der Mutter. "Hier wird ein psychisches Depot angelegt, das für alle späteren Krisen rüstet", sagt sie. "Kinder, die protestieren, haben noch ausreichend gesunde Anteile und die Hoffnung, dass sie gehört und gesehen werden. Es wäre fatal, wenn die intuitive Reaktion darauf als zu sensibel (Kinder) oder zu hysterisch (Mütter) interpretiert würde."

Immer wieder erlebe sie momentan die "Zerrissenheit vieler junger Mütter, die gefühlsmäßig länger die Zeit mit ihren Kindern teilen möchten, aber unter heftigsten Druck kommen" – und auf der anderen Seite Erzieherinnen, die unter hohem Stress stehen – aber nicht ernst genommen werden. Adler-Corman: "Die Voraussetzungen in unseren Kitas sind in jedem Fall unzureichend für die Versorgung emotional gesunder Kinder."

Auch der Verband für Bildung und Erziehung in NRW kritisiert die aktuelle personelle Situation in den Kitas: "Die Gruppen sind zu groß, die Zahl der ausgebildeten Erzieherinnen weiterhin zu klein", bemängelt der Vorsitzende Udo Beckmann. "Was mir bei der ganzen Diskussion um die U3-Betreuung zu kurz kommt, ist die Frage der Qualität. Dass es einen Rechtsanspruch gibt, ist klar, aber die Frage muss doch auch lauten: Wie kann das Kindeswohl sichergestellt werden und insbesondere das, was Kinder gerade in jungem Alter an Zuwendung brauchen?" Um diese Betreuungsqualität zu sichern, fordert der Verband Bildung und Erziehung daher einen Personalschlüssel von mindestens 1 zu 3 in den Gruppen der Unter-Dreijährigen. Und Beckmann betont: "Für die Kleinen entstehen besondere Stress-Situationen, wenn in altersgemischten Gruppen der Personalschlüssel die enge Betreuung oder Bindung nicht ermöglicht."

Laut Statistischem Bundesamt liegt das Betreuer-Kind-Verhältnis in Gruppen mit Kindern bis zu zwei Jahren (Stichtag 1. März 2011) bundesweit bei 1 zu 4,7. Nordrhein-Westfalen steht im landesweiten Vergleich mit 1 zu 3,6 auf Platz 4. In den Gruppen für Zwei- bis Siebenjährige liegt das Betreuungsverhältnis im Bundesgebiet bei 1 zu 8,4.

Sabine Menges kennt die Forderungen des Verbandes und die Daten des Bundesamtes nicht. Aber sie weiß: In Leos Gruppe sind 22 Kinder im Alter zwischen zwei und fünf Jahren. Für sie stehen zwei Erzieherinnen und eine Jahrespraktikantin zur Verfügung. Kaum auszudenken, was passiert, wenn eine von ihnen mal krank werden sollte. Leo – und mit ihm noch sechs andere Mädchen und Jungen – sind mit gerade erst zweieinhalb die Jüngsten in der Gruppe. Viel zu jung, um sich gegen Rüpel in der Gruppe durchzusetzen. Und oft einfach viel zu allein, um die nötige Rückendeckung einer Erzieherin zu erhalten.

Doch noch viel mehr, als die äußeren Umstände oder der eigene Zweifel sorgt die Mutter der psychische Zustand ihres Jungen. "Es geht doch gar nicht um mich und darum, irgendeinen Trennungsschmerz zu überstehen", sagt sie. "Aber ich frage mich jedes Mal, wenn ich ihn weinend zurücklasse. Was tue ich meinem Kind an? Was tue ich seiner kleinen Seele an? Was wird das für Folgen bei ihm haben?"

Und dabei hatte alles so gut und optimistisch angefangen – in einer tollen Einrichtung mit netten Mitarbeiterinnen und einem großen, liebevoll gestalteten Außengelände. Schon im Sommer hatte Leo einmal in der Woche die Krabbelgruppe in der Kita besucht, hatte die anderen Kinder und Erzieherinnen kennengelernt und in den Sommerferien noch eine

2 von 3 07.10.13 09:04

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mehrwöchige Eingewöhnungsphase gehabt.

Aber dann kippte die Stimmung. Die Lehrerin weiß auch noch genau wann: Als Leo das erste Mal auch zum Mittagessen bleiben sollte. Da klingelte dann das Telefon bei der 42-Jährigen und die Erzieherin bat sie, den Jungen abzuholen: Er weine nur noch und sei nicht zu beruhigen. Sabine Menges war froh, dass die Mitarbeiter so aufmerksam und sensibel waren und sie informierten. Trotzdem ein schrecklicher Moment für die Mutter, als sie in der Kita eintraf. "Er war völlig aufgelöst. Und so fertig, dass er erst einmal vier Stunden zu Hause geschlafen hat", erinnert sie sich.

Seitdem versucht Leo an jedem Morgen alles, um seine Eltern davon abzuhalten, ihn im Kindergarten abzuliefern. Denn ganz gleich, ob seine Mutter oder sein Vater ihn dorthin bringen: Die Schwierigkeiten sind dieselben. Und seitdem überlegen Sabine und ihr Mann ständig, was sie tun können, damit es Leo – und auch ihnen – wieder besser geht. Doch die Variante, ihn nur alle zwei Tage zu bringen (und die restliche Zeit zu den Großeltern), lehnt der Kindergarten ab. Die Gefahr wäre zu groß, hieß es, dass er sich dann gar nicht mehr in die Gruppe einfügen könnte. Und genau das wollen die Eltern doch auch: Dass ihr Kind, ein Nachzügler, eben nicht ein verwöhntes Einzelkind wird, sondern vielmehr Kontakt mit Gleichaltrigen hat – betreut von pädagogisch gut ausgebildeten Erzieherinnen.

Was also tun? Den Job wieder aufgeben und das Kind ganz zu sich nach Hause holen? Doch Sabine Menges arbeitet nicht nur, weil sie Freude an ihrem Beruf als Grundschullehrerin hat. Sondern auch, weil die Patchwork-Familie, zu der noch drei ältere Kinder gehören, natürlich auch das Geld benötigt.

Viele berufstätige Mütter sind in derselben Lage wie Sabine Menges. Doch die 42-Jährige ist, zumindest, was ihre Arbeit betrifft, flexibler als sie. Sie hat Glück, dass sie Lehrerin ist, Beamtin. Noch ein halbes Jahr läuft offiziell ihre Elternzeit mit Teilzeit. Bis März hat sie die Möglichkeit, ihre Stundenzahl so weit zu reduzieren, wie sie möchte. Sogar bis auf Null. Und notfalls will sie das auch tun. "Das würde schwer für die Schule und es täte mir sehr leid für die Kollegen, wenn es keinen Ersatz für mich gäbe", gibt sie zu. "Aber es ist mein Kind. Und ich habe doch die Verantwortung für ihn, dass es ihm gut geht, dass er glücklich ist, dass er eine unbeschwerte Kindheit hat."

Ein paar Tage haben sie und ihr Mann sich noch Zeit gegeben, dann werden sie entscheiden, ob sie für die nächsten Monate die Reißleine ziehen und ihr Kind aus der Einrichtung holten. "Was ist normal? Wie viel Zeit benötigt man für die Eingewöhnung?" fragen sie sich immer wieder. "Sind vier Wochen zu kurz? Aber wenn ein Kind so leidet, dann ist doch jeder Tag zu lang."

Aber wer weiß, vielleicht gibt es ja doch noch ein Happy-End. So wie im Buch über "Leo Lausemaus", der irgendwann abends seinem Vater erzählt: "Weißt du, Papa, ich hatte einen tollen Tag im Kindergarten..." Daran glauben kann Sabine Menges noch nicht. "Eigentlich", sagt sie nachdenklich, "gab es seit der Kita bisher keinen Tag, an dem er wirklich glücklich war."