Die Angst der SPD vor den Privatschulen

Die WELT vom 21.10.2013

Die deutsche Schullandschaft ist in einem tiefen Umbruch begriffen. Bis auf Bayern wurden in allen Bundesländern Haupt- und Realschulen miteinander verschmolzen. Neben dem Gymnasium bildet diese Gemeinschaftsschule, die in jedem Bundesland einen anderen Namen trägt, die zweite "Säule".

Die Unterrichtsergebnisse in dieser neuen Schulform sind allerdings wenig ermutigend. Bei den Vergleichsarbeiten in den Hauptfächern und beim Mittleren Schulabschluss schneiden die Schüler schlechter ab als die Schüler ehemaliger Realschulen. Die Hauptschüler orientieren sich offensichtlich nicht wie erwartet an den leistungsstärkeren Realschülern, sondern umgekehrt.

Hinzu kommen Disziplinschwierigkeiten in den Klassen und eine nachlassende Motivation der Lehrkräfte. Den Eltern ist diese Entwicklung nicht verborgen geblieben. Sie meiden die Gemeinschaftsschule und drängen mit ihren Kindern ins Gymnasium oder in die Privatschule. In den städtischen Ballungszentren, in denen eine bildungsorientierte Mittelschicht zu Hause ist, hat der Run auf die Privatschulen zu einem richtigen Gründer-Boom geführt.

 

Die Sorge vor dem Verlust der “idealen Mischung”

Der SPD ist die Ausweitung des Privatschulsektors ein Dorn im Auge. Sie befürchtet, dass in den staatlichen Schulen die "ideale Mischung" der Schüler verloren geht, wenn sich leistungsstarke Schüler verabschieden. SPD-Kultusminister versuchen deshalb mit administrativen Mitteln die Neugründung von Privatschulen zu erschweren.

Die rot-rote Landesregierung von Brandenburg hat die Zuschüsse für Privatschulen um 30 Prozent gekürzt. Die sozialdemokratische Schulsenatorin von Berlin versuchte vor kurzem die Neugründung dadurch zu verhindern, dass die üblichen Landeszuschüsse (im Schnitt 85 Prozent der Personalkosten) erst nach einer mehrjährigen Wartezeit gezahlt werden. Dieser Affront ist am Widerstand des Koalitionspartners CDU gescheitert.

Woher kommt die Aversion der Sozialdemokratie gegen die Privatschulen? Seit ihrer Gründung ist die SPD eine etatistische Partei: Das Heil kommt immer vom Staat. Im 19. Jahrhundert mag das noch berechtigt gewesen sein. Die allgemeine Schulpflicht für alle Kinder, auch die aus der proletarischen Unterschicht oder der bäuerlichen Bevölkerung, war nur durch kostenlose staatliche Schulen zu gewährleisten.

Es konnte aber auch nicht ausbleiben, dass im Zuge der Differenzierung der Gesellschaft neue Ansprüche an die Schule gestellt wurden, die von den staatlichen Einrichtungen nicht optimal befriedigt werden konnten. So entstand Anfang des 20. Jahrhunderts die Reformpädagogik, die eine Reihe berühmter Schulen in freier Trägerschaft hervorbrachte.

Diese Schulen setzten dem Lerndrill und der Belehrungspädagogik das "Lernen vom Kinde aus" und die Persönlichkeitsentwicklung als wichtiges Lernstimulans entgegen. Viele Intellektuelle, Künstler, Musiker und Literaten schickten ihre Kinder an diese Schulen, weil ihnen die freie Entwicklung ihrer Sprösslinge am Herzen lag. So besuchten die Kinder von Thomas und Katia Mann die Odenwaldschule und das Internat Schloss Salem.

 

Privatschulen als innovative Ideenschmieden

In der Folge wirkte die erfolgreiche Pädagogik dieser privaten Einrichtungen auf die staatliche Schule zurück. Was heute als didaktische Neuerung verkauft wird, wie etwa das jahrgangsübergreifende Unterrichten, das exemplarische Lernen, die außerschulischen Lernorte und das fächerverbindende Lernen, sind originäre Errungenschaften der Privatschulen.

Sie haben sich als innovative Ideenschmieden erwiesen, von denen die trägen staatlichen Schulen gelernt haben. Heute gibt es kaum noch eine Grundschule, die nicht mindestens eine Montessori- Klasse führt. Das Fach Darstellendes Spiel hat an allen Gymnasien Einzug gehalten.

Wer die Privatschulen austrocknen will, schneidet diese fruchtbare Verbindung zwischen den experimentierfreudigen privaten Schulen und dem langsam navigierenden staatlichen Schulsystem ab. Wer schulische Vielfalt beschneidet, schadet letztlich allen Schüler.

Beim Ressentiment der Sozialdemokraten gegen die privaten Schulen spielt Neid eine große Rolle. Wenn die meisten Kinder wegen des Schulgeldes, das die Privatschulen verlangen, ausgeschlossen bleiben, sollen die Kinder der "Reichen" auch nicht an diese Schulen abwandern dürfen. Gleiches Recht für alle heißt dann freilich: Einheitskost – oftmals auch nur Magerkost – für alle.

 

Privatschulen sind keine Eliteschulen für Reiche

Eine private Schule gründen zu dürfen, ist ein Grundrecht, das in Artikel 7 des Grundgesetzes verbürgt wird. Dieser Artikel stellt zugleich sicher, dass die Privatschulen keine Eliteschulen für die Reichen werden. Denn: Die "Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern" ist nicht erlaubt.

Deshalb schreiben alle Privatschulgesetze der Bundesländer vor, dass die staatlichen Zuschüsse nur gewährt werden, wenn mindestens ein Drittel der Plätze als Stipendien vergeben werden. Die Privatschulen erfüllen diese Verpflichtung durch ein gestaffeltes Gebührensystem. Deshalb haben auch Kinder aus wenig finanzkräftigen Elternhäusern eine Chance, diese Schulen zu besuchen.

An vielen Privatschulen werden übrigens auch Heimkinder unterrichtet. Hier zahlt der Staat die volle Gebühr, weil er sich sicher sein kann, dass die gute Betreuung diese problembeladenen Kinder auf die Erfolgsspur zurückführt.

Eltern schicken ihre Kinder auf eine Privatschule, weil sie vom pädagogischen Konzept der Schule überzeugt sind. Ihnen gefällt vor allem die wertegebundene Erziehung, das Eingehen auf die Kinder und die hohe Motivation der Lehrkräfte. All diese Attribute haben die staatlichen Schulen in den Augen der Eltern nicht zu bieten.

Es wäre also viel hilfreicher, die Arbeit der staatlichen Schulen kritisch zu hinterfragen und die Schwachstellen zu beheben. Schlechte Ausstattung mit Lehrmitteln, unwirtliche Gebäude, pädagogischer Schlendrian, Gängelung der Lehrer durch eine bürokratisch agierende Schulaufsicht – das sind offensichtliche Mängel, die die Eltern, denen das Wohl ihrer Kinder wirklich am Herzen liegt, aus dem staatlichen Schulsystem vertreiben. Statt Elternschelte wäre also Selbstkritik angesagt.

 

Der Autor ist pensionierter Lehrer für Deutsch und Geschichte. Er schreibt Bücher und hält Vorträge über pädagogische Themen.